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Jahrespressegespräch 2020: Wirtschaftsverfahren prägen Geschäftseingang
Datum: 31.07.2020
Kurzbeschreibung: Pressegespräch 2020: Umfangreiche Wirtschaftsverfahren prägen den Geschäftseingang am Landgericht / Präsident Dr. Singer: "Durch Personalstärkung und Spezialisierung können wir die hohe Qualität sichern."
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In 2019 haben die erstinstanzlichen Zivilkammern beim Landgericht Stuttgart im Vergleich zu 2018 rund 24 Prozent mehr Eingänge verzeichnet. Im ersten Halbjahr 2020 wurden mit einem Plus von rund acht Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum noch einmal deutlich mehr Klagen eingereicht. Eine Trendwende zeichnet sich nicht ab.
Dabei prägen vor allem die umfangreichen Wirtschaftsverfahren den Geschäftseingang am größten Gericht des Landes. Sämtliche Klagen gegen die heimische Wirtschaft können am Landgericht Stuttgart erhoben werden. In Kartell-, Urheber- und Markensachen sowie Wirtschaftsstrafverfahren ist das Hauptstadtgericht sogar für den gesamten württembergischen Landesteil ausschließlich zuständig. Im Herbst 2020 wird zudem ein „Stuttgart Commercial Court“ eingerichtet, der die Attraktivität des Landgerichts für große Wirtschaftsstreitigkeiten weiter steigert.
Der Präsident des Landgerichts Dr. Andreas Singer erläutert dazu: „Die starke Stellung der Automobilindustrie bildet sich in den anhängigen Verfahren in besonderem Maße ab. Die zahlreichen Dieselklagen, Kapitalanlegerklagen und Kartellverfahren stellen uns vor große Herausforderungen. Eine starke, unabhängige und effektive Justiz ist wesentlicher Standortfaktor einer erfolgreichen Wirtschaftsregion. Nur wenn uns die Durchsetzung des Rechts in angemessener Zeit gelingt, kann die Wirtschaft verlässlich planen und rechtssicher handeln. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, müssen wir jetzt reagieren.“
Ende 2018 waren am Landgericht Stuttgart noch 8.492 erstinstanzliche Zivilverfahren anhängig. Ende 2019 waren es bereits 9.852 Verfahren. Zum 30.06.2020 sind es jetzt 10.146. Dies entspricht einem Bestandsaufbau von rund 19 Prozent in 1 ½ Jahren. „Dass der Bestandsaufbau geringer als die Steigerung der Eingangszahlen ausfällt zeigt, dass wir uns der Klageflut mit aller Kraft entgegenstemmen. Klar ist aber auch, dass wir angesichts der schieren Masse auf weitere Verstärkung angewiesen sind. Durch Personalstärkung und Spezialisierung können wir die hohe Qualität unserer Rechtsprechung sichern“, erläutert der Präsident.
Zweite
Klagewelle gegen VW – Klagen gegen Daimler-Konzern nehmen weiter zu
Gegen VW sind in zwei Klagewellen seit 2018 rund 3.200
Dieselklagen am Landgericht Stuttgart eingegangen.
„Daneben wurden allein im ersten Halbjahr 2020 rund 1.700 Dieselklagen gegen den Daimler-Konzern erhoben. Das sind bereits mehr Klagen als im
gesamten Jahr 2019 mit 1.500 Neueingängen gegen den
Stuttgarter Autobauer. Die Klagen gegen den Daimler-Konzern
nehmen damit seit nunmehr einem Jahr kontinuierlich zu“, berichtet der Präsident. Am 27. Oktober 2020 wird sich der
Bundesgerichtshof mit der Zulässigkeit des sogenannten
„Thermofensters“ befassen.
Spezialkammern für Kapitalanlegerklagen
eingerichtet
Daneben sind am Landgericht Stuttgart rund 250 Anlegerklagen
gegen die Porsche Automobil Holding SE (PSE) und die
Volkswagen AG sowie rund 95 Verfahren gegen die Daimler AG
erhoben worden. Darin werfen Kapitalanleger den Beklagten im Wesentlichen vor, diese hätten aufgrund unterlassener Mitteilungen über
kursrelevante Vorgänge um den sogenannten
Diesel-Abgasskandal Wertpapiere zu teuer erworben und dadurch Kursdifferenzschäden erlitten. Die Forderungen gegen die Daimler AG
belaufen sich auf rund 906 Mio. Euro. Gegen die VW AG und
PSE machen alleine institutionelle Kläger mit 11
Klagen rund 711 Mio. Euro geltend. „Im Hinblick auf den Umfang und die Komplexität dieser Verfahren haben wir als bundesweit
erstes Gericht zum Jahresbeginn zwei Spezialkammern eingerichtet. Mit der Spezialisierung wollen wir die hohe Qualität
unserer Entscheidungen sichern“, erläutert der
Präsident.
Kartellschadenersatzverfahren über 64.000 Lkw
Aktuell sind am Landgericht Stuttgart alleine 280 Klagen zum
Lkw-Kartell anhängig. Nahezu sämtliche Klagen
richten sich zumindest auch gegen Daimler, daneben teilweise auch gegen MAN und Iveco. „Die Verfahren betreffen sehr selten nur
einzelne, sondern in der Regel hunderte, vereinzelt sogar
über 10.000 Lkw. Für die Frage, ob und in welcher Höhe ein Anspruch besteht, muss jedes einzelne Fahrzeug
überprüft werden“, berichtet der
Gerichtspräsident. Insgesamt geht es bei den Klagen vor der Kartellkammer um etwa 64.000 Lastkraftwagen. Die jeweiligen Schadenersatzforderungen liegen
zwischen 3.500 Euro und rund 100 Mio. Euro. Bis zum
heutigen Tage seien im Zusammenhang mit dem Lkw-Kartell
Schadenersatzklagen über insgesamt rund 600 Mio. Euro anhängig gemacht worden, berichtet Singer.
Spezialkammer für Steuerberater- und Wirtschaftsprüferhaftung
prüft Beratung zu
Cum/Cum- und Cum/Ex-Geschäften
Derzeit nimmt der Insolvenzverwalter über das Vermögen
der Maple Bank die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
Ernst & Young GmbH auf Schadenersatz in Höhe von
95 Mio. Euro in Anspruch. Die Haftung der Beklagten wird im
Kern darauf gestützt, dass die Beklagte in ihrer
Eigenschaft als Abschlussprüferin die Jahresabschlüsse der Maple Bank pflichtwidrig testiert und in ihrer Eigenschaft als Steuerberaterin die
Maple Bank fehlerhaft beraten habe. Bei
pflichtgemäßem Verhalten der Beklagten wären die Cum/Cum- sowie Cum/Ex-Geschäfte der Maple Bank unterblieben. Unter
Berücksichtigung der nun erfolgten Rückforderung
von Kapitalertragssteuer-Erstattungen durch den Fiskus seien diese Geschäfte verlustreich gewesen und hätten letztlich zur
Insolvenz der Maple Bank geführt. „Auch dieses
Verfahren wird vor einer eigens auf Steuerberater- und Wirtschaftsprüferhaftung spezialisierten Zivilkammer geführt. Damit wollen wir am
Landgericht auch in höchst anspruchsvollen und
komplexen Materien effektiven Rechtsschutz in angemessener Zeit gewährleisten,“ sagt Singer.
RiLG Elena Gihr, Presssprecherin in Zivilsachen, Tel.: 0711-212-3800
