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Jahrespressegespräch 2021: Massenklagen lassen Eingänge am Landgericht Stuttgart um 60 Prozent steigen

Datum: 13.08.2021

Kurzbeschreibung: Diesel- und Kapitalanlegerklagen führen zu steigendem Geschäftseingang  / Präsident Dr. Singer: „Zur Bewältigung der Klageflut ist eine Reform des kollektiven Rechtsschutzes unumgänglich.“

Klagewellen bauen sich immer weiter auf
Massenklagen am Landgericht Stuttgart nehmen das vierte Jahr in Folge dramatisch zu. Dabei prägt vor allem die Flut an Diesel- und Kapitalanlegerklagen den Geschäftseingang am größten Gericht des Landes. Gegen die Volkswagen AG sind in zwei Klagewellen rund 4.500 Dieselklagen am Landgericht Stuttgart eingegangen. Daneben wurden über 11.000 Dieselklagen gegen den Daimler-Konzern erhoben. Alleine im ersten Halbjahr 2021 waren es 4.500 Klagen gegen den Stuttgarter Autobauer. Dazu kommen hunderte Anlegerklagen gegen die Porsche Automobil Holding SE, die Volkswagen AG und die Daimler AG, aber auch gegen die Ernst & Young GmbH im Zusammenhang mit deren Wirtschaftsprüfertätigkeit für die Wirecard AG. „Die Klagewellen bauen sich damit seit vier Jahren immer weiter auf“, erläutert der Präsident des Landgerichts Stuttgart Dr. Andreas Singer: „Unsere Ressourcen sind auf diese Massenklagen nicht ausgerichtet.“

Verfahrensbestände seit Beginn der Klagewellen verdoppelt
In 2020 sind rund 16.700 Klagen bei den erstinstanzlichen Zivilkammern eingegangen. Vor Beginn der Klagewellen waren es noch rund 10.400 Klagen. Mithin haben die Eingangszahlen mit den Massenklagen um über 60 Prozent zugelegt. Und der Trend verstärkt sich weiter. So wurden im ersten Halbjahr 2021 mit einem Plus von rund 43 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum erneut deutlich mehr Klagen eingereicht. Dieser Anstieg hat gravierende Auswirkungen auf die Bestände und die Verfahrenslaufzeiten. Ende 2017 waren am Landgericht Stuttgart noch 6.613 erstinstanzliche Zi-vilverfahren anhängig. Zum 30.06.2021 sind es jetzt 13.644 offene Verfahren. Dies entspricht einer Bestandsverdoppelung in nur 3 ½ Jahren.

„Über die bisherige wertvolle Unterstützung hinaus benötigen wir weitere Verstärkung. Unsere Beschäftigten arbeiten seit Beginn der ersten Dieselwelle im Jahr 2018 an der Belastungsgrenze. Die Auswirkungen auf den Gerichtsstandort in der Metropolregion Stuttgart bereiten mir zunehmend Sorge. Zu lange Verfahren gefährden das Vertrauen in unseren Rechtsstaat“, sagt der Präsident. Während ein erstinstanzliches Zivilverfahren vor Beginn der Klagewellen im Jahr 2017 am Landgericht Stuttgart durchschnittlich 6,8 Monate gedauert hatte, dauerte es in 2020 bereits 7,4 Monate.

Digitalisierung als Treiber der Klagewellen
„Die Digitalisierung ist ein massiver Treiber dieser Klagewellen“, so der Landgerichtspräsident. Heute genügen schon wenige Klicks, um eine Klage auf den Weg zu bringen. Spezialisierte Anwaltskanzleien werben in den sozialen Medien und auf Internet-Portalen um neue Mandanten. Das Kostenrisiko der Klagen wird häufig von Legal Tech-Unternehmen, Prozessfinanzierern oder Rechtsschutzversicherern übernommen. „Nach amerikanischem Vorbild werden zum Zwecke einer Klageerhebung sogar eigene Gesellschaften gegründet, die werbewirksam Kläger einsammeln und sich deren Ansprüche abtreten lassen – so am Landgericht Stuttgart etwa in Kartellverfahren“, berichtet Singer: „Dieses Rad wird sich nicht mehr zurückdrehen lassen. Wir sind mitten in einem Umbruch unserer Justiz.“

Keine geeigneten prozessualen Instrumente
Noch fehlen geeignete prozessuale Instrumente, um mit diesem Wandel Schritt halten zu können. „In den massenhaft erhobenen Individualklagen geht es immer und immer wieder um ähnlich gelagerte Sachverhalte und parallele Rechtsfragen. Und dennoch müssen wir jede Klage einzeln verhandeln und entscheiden“, so Singer. Am Landgericht Stuttgart befassen sich derzeit 110 Richterinnen und Richter mit den rund 15.600 Dieselabgasklagen gegen VW und Daimler. Grundsätzliche Fragen im Zusammenhang mit einer möglichen Haftung der Daimler AG sind auch 2 ½ Jahre nach Beginn der ersten Klagewelle gegen den Stuttgarter Autobauer höchstrichterlich noch nicht geklärt. Am Landgericht Stuttgart hat sich daher weiterhin keine einheitliche Linie im Umgang mit den Klagen herausbilden können. „Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung sind wir auf eine zügige höchstrichterliche Klärung dringend angewiesen. Das dauert derzeit schlichtweg zu lange“, bemängelt Singer.

Musterfeststellungsklage hilft nicht weiter
Die vor zweieinhalb Jahren eingeführte Musterfeststellungsklage helfe aus Sicht der Gerichtspraxis nicht weiter, sagt Singer. So habe die Anwaltschaft trotz des vor dem Oberlandesgericht Braunschweig geführten Musterfeststellungsverfahrens gegen die Volkswagen AG rechtsschutzversicherten Klägern weiterhin eine Individualklage nahegelegt.

Eine positive Entscheidung im Musterfeststellungsverfahren spricht den Verbraucherinnen und Verbrauchern bislang keinen Zahlungsanspruch zu. Der eigene Anspruch muss im Anschluss in einer eigenen Klage erst noch geltend gemacht werden. Auch bei den Abgasklagen gegen die Daimler AG rät die Anwaltschaft Rechtsschutzversicherten von einem Anschluss an die Musterfeststellungsklage vor dem Oberlandesgericht Stuttgart ab. Außerdem betreffe die Musterfeststellungklage zu Modellen der Baureihen GLK und GLC nur einen sehr kleinen Ausschnitt an Fahrzeugen, der keine 10 Prozent der vor dem Landgericht Stuttgart anhängigen Daimler-Klagen abdecke, so Singer. „Aber selbst diese Verfahren dürfen wir als Gericht im Hinblick auf das Musterfeststellungsverfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart nicht aussetzen. Wir können also keine höchstrichterliche Klärung abwarten, sondern müssen parallel durchentscheiden. Hier werden Ressourcen verbrannt“, kritisiert der Präsident. Eine spürbare Entlastung des Landgerichts durch das jüngste Musterverfahren gegen die Daimler AG zu den Geländewagen erwarte er daher nicht.


Reform des kollektiven Rechtsschutzes aus Sicht der Praxis unumgänglich
Mit der Musterfeststellungsklage in ihrer bisherigen Ausgestaltung werden wir die Massenklagen nicht in den Griff bekommen“, so Singer. Er fordere daher ein starkes Instrument für kollektiven Rechtsschutz. „Solange die Individualklage attraktiver als der Anschluss an eine Sammelklage ist, kann die Justiz Massenklagen nicht kanalisiert und strukturiert abarbeiten“, prognostiziert der Landgerichtspräsident: „Der Reformdruck ist aus Sicht der gerichtlichen Praxis enorm.“

Die Justizministerkonferenz hat sich mit Beschluss vom 16. Juni 2021 für ein Vorlageverfahren zum Bundesgerichtshof ausgesprochen, um grundsätzliche Rechtsfragen künftig vorab höchstrichterlich klären zu lassen. Diesen Vorstoß begrüße er, so Singer: „Eine wichtige Aufgabe der künftigen Bundesregierung wird es sein, den kollektiven Rechtsschutz fortzuentwickeln. Geschädigte müssen schnell und kostengünstig zu ihrem Recht kommen.“ Seiner Überzeugung nach sei dabei ein direkter Zahlungsanspruch am Ende des Verfahrens und eine Verjährungshemmung etwaiger Ansprüche unabhängig von einem Anschluss an die Musterfeststellungsklage zentral. Singer verwies darauf, dass der Bundesgesetzgeber aufgrund der EU-Verbandsklagerichtlinie ohnehin gefordert sei, ein weitergehendes Instrument kollektiven Verbraucherrechtsschutzes zu schaffen: „Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung und aus Gründen der Prozessökonomie gehört dazu aber auch die Möglichkeit für die erstinstanzlichen Gerichte, anhängige Individualklagen bis zur höchstrichterlichen Klärung auszusetzen.“


RiLG Elena Gihr, Pressesprecherin in Zivilsachen, Tel.: 0711-212-3411

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